actio libera in causa (alic)

actio libera in causa (alic)

Die actio libera in causa (alic) (freie Handlung in der Ursache) behandelt Fälle, bei denen der Täter sich vorsätzlich betrinkt oder anderweitige Rauschmittel zu sich nimmt, um so in den Zustand der Schuldunfähigkeit gem. § 20 StGB zu gelangen, um sodann schuldlos und straffrei eine Straftat zu begehen (sog. vorsätzliche alic). Der Täter nutzt sozusagen das Prinzip aus § 20 StGB – das schuldlose nicht strafrechtlich belangt werden – aus. Die alic wiederum ist eine Methode, um dieses Ausnutzen des Täters (bzw. der Rechtsmissbräuchlichkeit des Täters) entgegen zu wirken.

Denn rein vom Bauchgefühl her klingt das zunächst etwas komisch, dass jemand, der sich vorsätzlich betrinkt, um später z.B. jemanden zu töten, dann auch noch straffrei davon kommt. Am Ende dieses Beitrages werden wir aber noch sehen, wie verschiedene Wege dogmatisch begründet sind und welche Auswirkungen die unterschiedlichen Wege mit Blick auf das Ergebnis haben.


Eine Möglichkeit zum Entgegenwirken gegen solche Fälle stellt der § 323a Abs. 1 StGB dar. Der „Vollrausch“ Paragraph ist deshalb ein subsidiärer Tatbestand, der nur geprüft wird, wenn die spezielleren nicht einschlägig sind. Aufgrund der besonderen Umstände, nämlich des sich vorsätzlich (bzw. fahrlässig) berauschen, um später ein Verbrechen zu begehen, erscheint das geringere Strafmaß von § 323a Abs. 1 StGB – „[…] Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe […]“ – doch etwas mulmig im Vergleich zu dem Strafmaß von z. B. Totschlag, gem. § 212 Abs. 1 StGB – „[…] nicht unter fünf Jahren […]“, weshalb die alic eine sehr wichtige Rolle spielt.1

Es wird zwischen zwei Arten der alic unterschieden, nämlich einmal die vorsätzliche und einmal die fahrlässige alic, wobei ersteres die wesentliche Hauptrolle spielt.

Vorsätzliche alic

Damit wir die alic besser und leichter verstehen können, sollten wir uns zunächst einen Beispielsfall anschauen und anhand der verschiedenen Theorien die alic an diesem Beispielsfall anwenden.

S arbeitet schon seit Jahren mit der H zusammen und sieht sie als eine starke Konkurrenz an. Daher beschließt eines Tages S die H heimtückisch umzubringen. Aufgrund ihres Studium der Rechtswissenschaften, welches sie lediglich für zwei Semester absolvierte, weiß S jedoch, dass sie nicht bestraft werden kann nach § 20 StGB, wenn sie sich vorher schuldunfähig „betrinkt“. Nachdem sie dann einen Pegel von 3,3‰ erreicht hat, greift sie zu ihrem Messer und ersticht H.

A. Strafbarkeit der S nach §§ 212 Abs. 1, 211 StGB
    1. Objektiver Tatbestand
      1. § 212 Abs. 1 StGB
        1. Taterfolg: Tod der H, (+)
        2. Tathandlung: Einstechen
        3. Kausal nach der conditio sine qua non-Formel, (+)
        4. Objektive Zurechnung, (+)
      2. § 211 StGB: Mordmerkmal(e)
        1. Heimtücke, (+)
    2. Subjektiver Tatbestand
      1. Vorsatz bgzl. § 212 StGB, (+)
      2. Vorsatz bzgl. des Mordmerkal Heimtücke, (+)
    3. Rechtswidrigkeit, (+)
    4. Schuld
      1. Schuldfähig gem. § 20 StGB?
        1. Zum Zeitpunkt der Tat hatte S einen BAK von 3,3‰. S war demnach schuldunfähig.
        2. Etwas anderes könnte sich jedoch aus den Grundsätzen der actio libera in causa (alic) ergeben. Hier erfolgt dann der Prüfungseinstieg der alic.

Voraussetzung für die vorsätzliche alic ist ein sog. Doppelvorsatz2: in dem Moment, indem sich der Täter berauscht, also noch im nüchternen Zustand, muss der Täter Vorsatz bzgl. des

  1. Sichberauschen und
  2. bereits zu diesem Zeitpunkt Vorsatz bzgl. des Begehen einer konkreten Straftat, die während des Rausches begangen werden soll, haben.3

Will der Täter jedoch im Rauschzustand nur irgendeine Straftat begehen und hat während des Sichberauschens noch keine konkrete Straftat festgelegt, liegt kein hinreichend bestimmter Vorsatz vor.4 Als Auffangtatbestand kommt demnach „nur“ der § 323a Abs. 1 StGB in Betracht. § 323a Abs. 1 StGB greift auch bei einem Vorsatzwechsel nach dem Eintritt der Schuldunfähig ein.5

Insgesamt werden wir vier Theorien besprechen. Die ersten beiden Theorie bilden eine Art Paar, sowie die letzten beiden.

  1. Ausdehnungstheorie
  2. Ausnahmemodell
  3. Werkzeugtheorie
  4. Tatbestandslösung

Die ersten beiden Theorien haben gemeinsam, dass der wesentliche Anknüpfungspunkt bei der unmittelbaren Tatbegehung liegt. In unserem Fall wäre dies demnach das Einstechen der S auf H. Anknüpfungspunkt der letzten beiden Theorien ist jedoch schon beim Sichberauschen, also schon vor der unmittelbaren Tatbegehung. Dazu schauen wir uns den unten stehenden Zeitstrahl an:

Zeitstrahl-actio-libera-in-causa-alic-juraeinmaleins

I. Ausdehnungstheorie (unmittelbare Tatbegehung: hier Einstechen der S auf die H)

Wie oben bereits geschrieben, knüpft die sog. Ausdehnungstheorie an den Punkt „Unmittelbare Tatbegehung“ an. Dabei richtet sich diese Theorie zwar an § 20 StGB „bei Begehung der Tat“, jedoch dehnt, wie der Name schon sagt, den Wortlaut aus und knüpft die Schuldfähigkeit bereits zum Vorverhalten (sog. actio praecedens) an.6

  • Pro:
    • Eine Schuldzuweisung ist nicht an dem Zeitpunkt der Tatbegehung gebunden und kann auch bereits vorher gesetzt werden.
  • Contra:
    • Verstoß gegen das Simultanitätsprinzip (oder auch Koinzidenzprinzip) § 20 StGB i.V.m. § 8 Satz 1 StGB.
    • Inkonsequente Anwendung des selben Begriffes „bei Begehung der tat“
      • In § 16 StGB „bei Begehung der Tat“
      • In § 20 StGB wird zwar „bei Begehung der Tat“ angeknüpft, aber ausgedehnt auf das Vorverhalten.
II. Ausnahmemodell (unmittelbare Tatbegehung: hier Einstechen der S auf die H)

Auch bei dieser Theorie wird der Schuldvorwurf auf das Vorverhalten verschoben.7 Das gemeinte Vorverhalten ist, wie oben im Zeitstrahl zu erkennen, dass Sichberauschen, also vor Eintritt der Schuldunfähigkeit.8 Die Besonderheit beim Ausnahmemodell liegt darin, dass es sich bei der alic um eine gewohnheitsrechtliche Ausnahme des § 20 StGB handelt. Wesentliches Merkmal für die alic ist, dass das Unrecht und der Schuldvorwurf zeitlich auseinander fallen.9 Damit dem Unrecht entgegengewirkt werden kann, wird die Schuld auf das Vorverhalten abgestellt.

  • Pro:
    • Wer rechtsmissbräuchlich, also unter dem Deckmantel des § 20 StGB, handelt soll sich dann nicht auf § 20 StGB berufen dürfen.10
  • Contra:
    • Verstoß gegen das Simultanitätsprinzip (oder auch Koinzidenzprinzip) aus § 20 StGB  i.V.m. § 8 Satz 1 StGB.11
    • Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG: keine Strafe ohne Gesetz, daher kommt eine ungeschriebene Ausnahme niemals in Betracht.12

Bei der Ablehnung beider Theorien kommen wir dann Im Ergebnis bezogen auf unseren Beispielsfall auf keine Strafbarkeit der S gem. §§ 212 Abs. 1, 211 StGB, (-).

An dieser Stelle sind wir noch nicht fertig, denn schließlich haben wir die anderen beiden Theorien noch nicht besprochen. Die weitere Prüfung geht dann so weiter:

B. Strafbarkeit der S nach §§ 212 Abs. 1, 211 StGB i.V.m. alic
  1. Objektiver Tatbestand
    1. § 212 Abs. 1 StGB
      1. Tathandlung: Sichberauschen

Im zweiten Teil gibt es kleine, aber wichtige Änderungen:

  1. Die alic wird in der Paragraphenkette mitzitiert (i.V.m. alic, siehe Überschrift B).
  2. Anknüpfungspunkt bei der Tathandlung ist nun nicht mehr die unmittelbare Tatbegehung, sondern bereits das Sichbetrinken. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied, denn hier wird nicht erst auf die unmittelbare Tatbegehung angesetzt und die Schuld dann zu einem vorherigen Zeitpunkt vorverlagert, sondern hier wird direkt an das Sichbetrinken angesetzt. Dazu werfen wir nochmal einen Blick auf den Zeitstrahl:

Zeitstrahl-actio-libera-in-causa-alic-juraeinmaleins

III. Werkzeugtheorie (Sichbetrinken)

Die Werkzeugtheorie sieht starke parallelen zwischen der alic und einer mittelbaren Täterschaft. Die alic ist demnach ein Sonderfall der mittelbaren Täterschaft gem. § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB.13 Indem der Täter sich berauscht, macht er sich selbst zu seinem eigenen Werkzeug und lässt sodann das Werkzeug (also sich selbst) die Straftat begehen.14

Auch diese Theorie wird verneint, da der Wortlaut des § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB eindeutig ist: es muss sich bei dem Werkzeug um einen anderen handeln.15

IV. Tatbestandslösung bzw. Vorverlagerungstheorie (Sichbetrinken)

Schließlich kommt die sog. Tatbestandslösung in Betracht. Diese knüpft bereits beim Sichbetrinken an und sieht diese Handlung als „Begehung der Tat“ gem. § 20 StGB an.16

  • Pro
  • Ausnahme
    • Rückgriff auf alic nicht möglich, bei dem eine mittelbare Täterschaft ebenfalls nicht möglich wäre: eigenhändige und verhaltensgebundene Delikte.19
    • Merksatz: das Sichbetrinken ist nicht das Führen eines Kfz!20
  • Contra
    • Die Tatbestandslösung knüpft an eine straflose Vorbereitungshandlung an = Verstoß gegen das Simultanitätsprinzip, § 20 StGB. Demnach würde keine Theorie greifen und dogmatisch wäre denn „lediglich“ Platz für § 323a Abs. 1 StGB.
C. Versuch und Rücktritt

Das Versuchsstadium beginnt bei dem Tatbestandsmodell (und auch bei der Werkzeugtheorie) recht früh, nämlich schon bei dem Sichberauschen.21 Denn angeknüpft wird nicht bei der unmittelbaren Tatbegehung, sondern bereits bei dem Sichberauschen. Beachtlich ist insofern der Zeitpunkt, bei dem sich der Täter in einen schuldunfähigen Zustand versetzt. Hierin lässt sich eine Parallele zur mittelbaren Täterschaft ziehen: Denn da beginnt die Versuchsphase dann, sobald der Täter das von ihm in Gang gesetzte Geschehen in der Weise aus der Hand gegeben hat, dass der daraus resultierende Angriff auf das Opfer nach seiner Vorstellung von der Tat ohne weitere wesentliche Zwischenschritte und ohne längere Unterbrechung im nachfolgenden Geschehensablauf unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung einmünden soll.22

Trotz Schuldunfähig, aber wegen der Vorverlagerung, kann der Täter mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurücktreten.23

Fahrlässige alic

Die fahrlässige alic ist überflüssig, da eine Strafbarkeit wegen einer fahrlässigen Tat nach den allgemeinen Regeln an die weit im Vorfeld liegende Defektsherbeiführung als sorgfaltswidriges Verhalten anknüpft. Demnach ist eine Vorverlagerung mithilfe der alic nicht notwendig.24


1 – Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht Allgemeiner Teil, 46. Auflage 2016, § 13, Rn. 633.
2 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 639.
3 – Supra.
4 – Vgl. BGH StV 93, 356Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 639a.
5 – Wessels, (Fn. 1), § 13, Rn. 639a.
6 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 635c.
7 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 634.
8 – Supra.
9 – Supra, (Fn. 7).
10 – Supra, (Fn. 7).
11 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 634b.
12 – Supra.
13 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 635d.
14 – Supra.
15 – Supra, (Fn. 13).
16 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 635.
17 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 637.
18 – Supra.
19 – Supra, (Fn. 17).
20 – BGHSt 42, 235; Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 637.
21 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 641.
22 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 641, 872.
23 – BGHSt 23, 356 (359); Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 642.
24 – Wessels/Beulke/Satzger, (Fn. 1), § 13, Rn. 642.

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Van
Van

Van hat Jura an der Ruhr-Universität Bochum studiert und belegte den Schwerpunkt "Unternehmen und Wettbewerb" mit Fokus auf Urheberrecht, Gewerblichen Rechtsschutz und Datenschutzrecht. Neben Jura interessiert er sich für Fotografie, Sport und Web 2.0. Außerdem mag er Katzen.